Notiz_2.1
Die metaphysische Dimension der Wassermelonenkruste ist wohl nicht im Wesen der Wassermelonenkruste selbst zu suchen, sondern vielmehr in mir, wenn ich der schwimmenden Kruste folge, beziehungsweise ist der Akt des Folgens in diesem Fall unverzichtbare Bedingung meines Denkens. Das heißt: Die Wassermelonenkruste ist bedeutungslos, wenn man sie nicht folgt. Das heißt: Nicht die Wassermelonenkruste ist hier wichtig, sondern dass ich gehe. Anders als bei Attila József, der auf der untersten Stufe des Donaukais saß und die Wassermelonenkruste bloß vorbeischwimmen ließ. Andererseits kreisen die Gedanken seines Gedichtes eher um die Donau als um die Kruste. Ich habe aber keine Donau zur Verfügung im Weißen Land. Nur die Wassermelonenkruste. Ich schlage die Gedichtsammlung von Attila József auf und lese.
Néztem, hogy úszik el a
dinnyehéj…
Alig hallottam, sorsomba
merültem…
Hogy fecseg a felszín,
hallgat a mély…
Wie würdest du „fecseg“ übersetzen?
Vera sitzt in einem kleinen weißgestrichenen Boot ohne Segel, das
langsam hinter der Kruste fährt. Sie trägt nun ein hellblaues, langes Kleid, ein
dünnes, cremefarbenes Tuch um die Schulter und einen weiten Strohhut mit weißen
Rosen geschmückt. Aus irgendwelchem Grund hält sie einen altmodischen
Sonnenschirm in der Hand.
„Schwätzt“ wäre die richtige
Übersetzung. Kein elegantes Wort jedoch. „Rauscht“ vielleicht… „Wie die Fläche
rauscht…“
„Die
Tiefe“…
„Horcht“…
„Wie
die Fläche rauscht, wie die Tiefe horcht“
Ja.
Schön.
Vera entfernt eine Haarsträhne vor ihren Augen, sie lächelt. Ich
lächele zurück. Dank der Zeitumstellung streckt sich dieser wunderschöne
nördliche Morgen in die Länge.
Wie
die ewige Sonntage in Udine, der angenehme Kater und die Gedichte von Attila
József, die Bilder von Modigliani, die Erinnerungen vom vorigen Abend. Du
verbrachtest die Vormittage im Bett, lesend, denkend, schreibend, während die
Dinge ihren richtigen Platz fanden. Die Ordnung war bis Mittag wieder
hergestellt. Am frühen Nachmittag konntest du also mit reinem Gewissen und klarerem
Kopf wieder aus dem Zimmer, aus dem Haus, in die Stadt. Im Café unter den
Säulen oder am Kanal notiertest du träumenden Worten auf karierte Blätter, du
sahst zu, wie der Wind durch die leeren Straßen spazierte. Dann standest du auf
und gingst bis zur Bar vor der Schule, dort warst du verabredet. Deine Bücher
lagen auf dem Aluminiumtisch, du sprachst, du hörtest zu, du spürtest dauerhaft
ein unsichtbares Lächeln hinter deinen Augen leuchten. Am Abend, als du zurück
nach Hause kamst, war vom Kater nichts mehr zu spüren außer der warmen Müdigkeit.
Du lagst in Bett und wiederholtest dir manche Zeilen aus den Gedichten des
Morgens. Dann schliefst du ein. Unbeschwert.
Schöne Zeiten.
Vera würde an dieser Stelle sagen, die Zeiten sind immer noch
unbeschwert, leicht wie dieser Herbsttag, der eine Stunde länger dauert als
sonst. Das weiß ich aber schon, und Vera weiß, dass ich es weiß. Also schweigt
sie und beobachtet die Wassermelonenkruste.
Wo treibt sie hin?
Es ist nicht wichtig.
Zum Schwarzen Meer also.
Ja.
Steig ein.
Ich beuge mich vor, strecke mein Hand aus, Vera hält sie. Ich
setze mich ins Boot. Die Dächer der Städte glänzen wie im Traum.
Heute kommt Besuch aus München.
Ja. Ich freue
mich, Giba zu sehen.
Du solltest das Video hochladen.
Ich werde daran
denken.
Wir schwimmen, noch die Wassermelonenkruste folgend, an einer
Gruppe Tänzerinnen vorbei. Sie üben die Schritte von De Keersmaekers „Rosas
danst Rosas“.
Ich müsste mich
noch fürs Seminar vorbereiten.
Vera hört mich nicht. Sie blättert in der Attila József Gedichtsammlung.
Ich sehe noch einer Weile lang die Kruste zu, unentschlossen.
Dann mache ich die Augen zu, ich lasse sie alleine
weiterschwimmen.
Richtung Schwarzes Meer.