Notiz_6.1
Miniaturwolken schweben unter den tief hängenden Zweigen einer
Trauerweide.
L’arte dell’osservazione delle nuvole.
Ja… Wie würde es auf Deutsch klingen?
Vera überlegt.
Die Kunst des Wolkenbeobachtens…
Oder: Die Kunst der Beobachtung von Wolken.
Besser noch: Die Kunst, Wolken zu
beobachten.
Ich erinnere mich gar nicht mehr, worüber ich
schreiben wollte.
Vera schaut hoch.
Magst du die Musik bitte ändern?
Entschuldigung.
Nichts passiert.
Heute erst habe ich die Dateien aus meinem alten Laptop neu
eingeordnet. Damit habe ich den größten Teil des Tages verbracht. Jetzt schwebe
ich zwischen Ohrwürmer und neue Musik, die ich zufällig auf Spotify entdecke.
Was ist damit?
Wir hören gerade das letzte Album von The Divine Commedy.
Es ist nicht schlecht. Aber ich kann mich
nicht konzentrieren.
Gut.
GMF von John Grant.
Schon wieder?
Ein letztes Mal. Dann lasse ich Elbow spielen.
Vera antwortet nicht. Ich habe das Lied bestimmt um die fünfzig
Mal gehört seit gestern Abend.
I am the greatest motherfucker
that you’ll ever gonna meet…
from the top of my head down
to the tips of the toes on my feet…
don’t forget you could be
laughfng…
sixtyfive percent more of
the time…
sixtythree percent more of
the time…
twentyfive percent more of
the time…
Das Lied klingt aus, ich klicke auf Little Fictions. Das Album
kennen wir beinahe auswendig. Aber wir sind noch lange nicht müde davon. Vera
lächelt. Sie schaut auf die winzigen Wolken, die auf der Höhe ihrer Brust
wogen.
Du
wartest auf den Bus, es ist ein milder italienischer Aprilnachmittag. Du musst
zum Bahnhof fahren, dort wirst du Eric treffen, er schläft gerade bei Maxi,
denn seine Oma hat eine Wohnung in Udine. Zusammen werdet ihr zum Dach
hochgehen, die Sonne wird untergehen und den Himmel rot färben. Ihr werdet
grillen vielleicht. Vielleicht werdet ihr durch die leeren Feiertagsstraßen
schlendern und Fahrräder klauen. Du lässt dich treiben, vieles ist dir
gleichgültig. Du singst leise Frank Sinatra. Du denkst an nichts. Dann hebst du
deinen Blick und siehst die Wolken. Du versuchst die Formen zu deuten, aber dir
fällt nichts ein. Leere. Du beobachtest deine Leere. Dann senkst du den Kopf
und siehst die Gräser, die zwischen den Ritzen im Bürgersteig wachsen. Eine
Idee nimmt langsam Gestalt an. Eine Geschichte von Dächern, untergehenden
Sonnen, geklauten Fahrräder und von einem jungen Mann, der die Wolken
beobachtet und nichts sieht bis er etwas sieht.
Habe ich jemals angefangen zu
schreiben?
Nein.
Besser so. Klingt immer noch nach
Nichts.
Vera sieht mich ernst an.
Manche Schriften von dir sind verloren
gegangen.
Mir ist es gerade aufgefallen.
Und?
Morgen. Ich muss ja Warten lernen.
Vera grinst. Sie weißt, dass wenn sie spricht, sie meistens
recht hat.