Notiz_10
Ich wurde um vier Uhr dreißig von einem Faustschlag auf die Brust
geweckt, ganz aufgewacht bin ich wegen meiner Durst. Es gab kein Wasser im
Zimmer, ich musste die Treppen herunterlaufen bis zum Keller um eine Flasche zu
finden. Danach legte ich mich wieder hin. Vera saß auf dem Boden, ihr Rücken an
den Heizkörper angelehnt. Ihre weit geöffneten Augen leuchteten im Dunkeln. Die
Fernlichter der Autos auf der Straße schienen manchmal durch das Fenster, das
Zimmer wurde hell dann, Veras Gesicht dunkler, nur die Augen leuchteten
unbeirrt weiter. Sie flüsterte. Etwas mit Tulpen. Meine Augenlider fielen
langsam zu. Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass ich nicht einschlafen
konnte. Ich stand auf und ging ins Bad. Als ich zurückkam, war Vera verschwunden.
Ich schloss die Augen. Etwas mit Tulpen.
…dann habe ich mich eine Zeit lang
mit dem Rudern beschäftigt. Frag’ nicht. Ich muss noch daran arbeiten. Jedenfalls
habe ich die letzten Monate hauptsächlich mit Warten verbracht.
Wartest
du jetzt nicht mehr?
Doch. Ich warte noch. Aber weniger.
Ich habe weniger Hoffnung.
Und
das ist gut?
Ja. Ich fühle mich besser.
Jetzt,
wo die Hoffnung ein Ende hat, kann ich wieder zusehen, wie die Straßen frieren.
Eine Ansammlung von Weihnachtsbaumkerzen auf dem Holztisch,
dahinter die Fenstertür, im Garten sitzt der zungenlose Löwe und zerteilt einen
Plastiklurch. Vera steht in der Küche, ihre Haare Gold von den seltenen
Sonnenstrahlen. Sie sieht verschlafen aus.
Ich habe wenig geschlafen.
Träume?
Nein. Deswegen.
Und wo warst du in den letzten Monaten?
Eine graue Steinsäule, deren Ende in den weißen Himmel
verschwindet. Vera schaut hoch, ich schaue Vera an. Um uns herum unendlich viel
Weiß.
Ich bin einem Gedanken nachgegangen.