Notiz_17
Kandinsky.
Hmm.
Er hat ein musikalisches Gespür für
den Raum und für das Bild. Er malt Bewegung, er malt Ton, das hat nichts mehr
mit der Natur zu tun, oder doch, aber auf eine vollkommen neue Art und Weise. Er
malt das Unsichtbare und doch Vorhandene. Als würde ich versuchen, einen Tanz
aufzuschreiben.
Du
kannst nicht zeichnen.
Das stimmt.
Und
du spielst kein Instrument. Noten kannst du auch nicht lesen.
Ich kann aber tanzen.
Hmm.
Ich könnte jetzt beleidigt sein. Aber Vera hat recht. Ich sollte
nicht meine Wünsche mit meinem Wesen verwechseln. Dezember war ein schwerer
Monat voller zerreißenden Hoffnungen. Es war mir, als wollte irgendetwas in
mir, was ich vorläufig Seele nennen würde, nicht nur aus meinem Körper, sondern
gleich aus meinem ganzen Leben heraus, um frei schweben zu können in einem unwirklichen
Ort, den ich vorläufig Weißes Land nennen würde. Das mochte Vera nicht, also
ging sie ihren Gedanken nach und ließ mich allein mit meinen Wünschen. Seitdem
Vera zurück ist, pflege ich meine Demut, als wäre sie ein ängstlicher zungenloser
Löwenwelpe. Teilweise kratzt er. Aber er ist eigentlich sehr lieb. Zum Beispiel
jetzt liegt er unter dem Küchentisch und döst, während Vera und ich frühstücken.
Du kannst auf jeden Fall sehr gute
Bratkartoffeln machen.
Danke. Noch einen Schluck Kaffee?
Ja, bitte.
Ich stehe auf und schenke Kaffee in ihr Glas ein. Wir hätten
auch Espresso-Tassen, aber Vera trinkt lieber aus einem Glas, das sie niemals spült.
Vielleicht gehe ich aus und kaufe
ein Kandinsky-Bilderband. Ich könnte die Fotos herausschneiden und an die Wand
hängen.
Hmm.
Vera weiß, dass auf einem Notenständer im Wohnzimmer meine
ganzen Kunstpostkarten liegen. Ich habe noch keinen guten Ort gefunden, wo ich
sie aufhängen könnte. Vera weiß auch, dass alles was ich gerade tue ist
Prokrastination. Ich habe keine Lust, meine Hausarbeiten anzufangen.
Vielleicht
morgen.
Hmm.
Das war ein sehr bejahendes Hmm.
Was würdest du
heute gerne tun?
Ein
wenig auf der Couch liegen, dann tanzen, dann duschen, dann deine Hausarbeiten
anfangen.
Guter Plan.
Draußen ist es kalt. Sibirische Kälte. Schneeflocken fliegen
durch die Straßen, als wären sie sich verlaufen, als würden sie nach dem
Heimweg suchen. Vera isst die letzten Kartoffeln auf, trinkt vom lauwarmen
Kaffee, seufzt. Sie ist satt. Ich räume unsere Teller und Besteck in die
Spülmaschine. Der zungenlose Löwe seufzt auch. Vielleicht träumt er, satt zu
sein.
Kandinsky hast du gesagt?
Ja.
Vera schaut hoch nach ihren Gedanken. Sie fliegen über ihren
Kopf, als wären sie sich verlaufen.
Couch?
Couch.
Vera lächelt zufrieden. Die Tage sind lang. Das ist schön.