Wo Vera war_2
Vera kam kurz vor dem offiziellen Einbruch des Winters in Budapest an. Sie ging vom Keleti-Bahnhof geradeaus bis zum Donauufer, dort blieb sie dann eine Zeitlang. Sie beobachtete, wie die Eisschollen auf das grüne Wasser Richtung Schwarzen Meer schwammen. Der Tag wurde Abend, die gelben Straßenlichter gingen an. Die Eisschollen sahen aus, als würden sie Flammen gefangen halten um sie vor dem schwarzen Fluss zu schützen. Der Abend wurde Tag. Das Wasser wurde wieder Grün, die Eisschollen weiß, die Stadt nebelig, unscharf. Auf dieser Weise vergingen die Tage. Dann brach der Winter offiziell ein, die Sonne widersprach ihm und fing an zu scheinen. Dazu komponierte Vera ein kleines Frühlingslied und sang es.
The sun was so kind to come see
us this morning,
It’s the first day of spring we
can handle the light.
A
candle’s fire can’t be enough bright
This winter has made us a little
more blind.
Die Eisschollen schmolzen. Das fand Vera langweilig. Das Lied
weitersummend, setzte sich also Vera auf die letzte Eisscholle und fuhr mit ihr
gegen den Strom. Vera musste mich nämlich in Deutschland treffen und hatte
vergessen, ein Zugticket zu besorgen. Als Vera unter der Kettenbrücke trieb,
schaute sie hoch. Sie traf den Blick eines kleinen weißgoldenen zungenlosen
Löwenwelpen. Der Löwe schien sehr interessiert an Vera und an der Eisscholle zu
sein, obwohl es anzunehmen ist, dass das Interesse des Löwen mit den
physikalischen Gesetzen, die die Eisscholle widersprach, nichts zu tun hatte. Vera
fragte sich, wem der Löwe wohl gehörte. Als sie sich das fragte, summte Vera ein
wenig stärker. Das Summen nahm der Löwe als Ruf wahr, also sprang er Vera in
den Schoß. Vera war sehr überrascht. Andererseits, klärte das Ereignis
endgültig die Frage, wem der Löwe gehörte. Denn Vera dachte: Wenn der Löwe
jemandem gehörte, der zu ihm gut war, wäre der Löwe wohl nicht gesprungen; Wenn
der Löwe aber jemandem gehörte, der zu ihm nicht gut war, hatte der Löwe das
unbestrittene Recht, in den Schoß von
jemand anderen zu springen und ihm dann zu gehören; Also gehörte der Löwe
entweder niemandem oder jemandem, der zu ihm nicht gut war; Das alles war aber
nun Vergangenheit, da der Löwe seine Entscheidung, Vera zu gehören, endgültig
bewies, indem er Veras Hände und Gesicht ableckte. Vera beschloss, mir den
kleinen weißgoldenen zungenlosen Löwen mitzubringen, denn sie hatte auch
vergessen, mir ein Weihnachtsgeschenk zu besorgen. Also fuhr Vera mit dem Löwen
die Donau hoch bis Ingolstadt, dort nahm sie den Regionalexpress nach Nürnberg,
wo sie fünfzehn Minuten auf den Anschlusszug wartete. Der Löwe erwies sich in
alledem als einen sehr guten Reisegenossen. Wenn er nicht schlief, leckte er
pflichtbewusst Veras Hände und Gesicht weiter. Das gefiel Vera. Es war auch an
der Zeit, ein Tier in der Wohnung zu haben, dachte sie.