Kandinsky_Komposition
Kandinsky. Vera denkt nach.
Kandinsky. Vera sinkt in die Couch ein und denkt nach.
Kandinsky. Vera schließt die Augen, sinkt tiefer in die Couch
ein und denkt nach.
Vera macht die Augen auf und befindet sich in einem Bild. Auf
weißem Hintergrund ragen riesige schwarze Säulen empor, wundersame Dreiecke
starren sie an mit weißen Kreisen als Augen, Vierecke wie Treppen nach
Nirgendswo schweben in der Luft. Vera setzt sich auf einen naheliegenden,
perfekt halbsphärischen Hügel und beobachtet.
Zeit zu gehen, denkt Vera, nur weiß sie nicht, wohin. Vera
schaut sich um. Geometrische Formen mutieren, lösen sich auf, werden sich
bewegenden Linien, die wiederum Punkte werden, diese Punkte explodieren dann und
aus der Explosion entspringen neue Formen und so weiter. Alles geschieht in
vollkommener Stille auf weißem Hintergrund. Mit der endlos weißen Landschaft
hat Vera selbstverständlich kein Problem, nur die Stille findet sie ein wenig
beunruhigend im Kontrast mit der unaufhörlichen Bewegung der Gegenstände um sie
herum. Wenn Vera etwas beunruhigend findet, vor allem wenn dieses etwas die
Stille ist, dann summt Vera häufig. Also summt Vera. Zu ihrer großen
Überraschung kann sie aber nichts hören außer der ununterbrochenen Stille. Vor
ihr sind stattdessen schwarze Linien aus
dem weißen Nichts erschienen, die die Töne ihrer Melodie zu folgen scheinen. Vera
geht mit ihrer unhörbaren Stimme hoch, so schießen die Linien in die Luft, dann
wird sie tief, die Linien flitzen in den weißen Abgrund. Vera spielt vergnügt
mit den Linien, bis sie sie sich fragt, woraus die wohl gemacht sind. Sie summt
leiser, damit die Linien zu ihr näher kommen, dann mit einer schnellen Bewegung
versucht sie, die Linien zu fassen. Zu ihrer noch größeren Überraschung haben
die Linien gar keine Körperlichkeit, sie scheinen eher aus heißer Luft gemacht,
aus Atemzügen. Aus dem Augenwinkel sieht Vera, wie ein Berg aus Dreiecken aus
dem Gleichgewicht gerät und in vollkommener Stille einstürzt. Das war wohl eine
unerwartete Folge der Bewegung ihres Armes, denkt Vera und sofort steht sie
auf, um weitere Bewegung auszuprobieren. Vera bewegt schlagartig ihren
ausgestreckten Arm von einer Seite zur anderen, so als würde sie die Luft spalten
wollen, also sieht zu, wie die entzweigeschnittenen Landschaften und Formen auseinandertreiben.
Interessant, sagt Vera. Eigentlich aber sagt sie gar nichts, nichts hörbares
auf jeden Fall, sie bewegt ihren Mund und spricht das Wort aus, aber statt Laute
materialisieren sich vor ihr die Buchstaben des Wortes:
interessant
Vera blickt überrascht auf die schnell verschwindenden
Buchstaben. Sehr interessant, sagt Vera.
sehr interessant
Vera lächelt. Zeit zu gehen, denkt sie, ganz gleich wohin. Vera
beginnt, eine breite Melodie zu singen, wie aus tausend Stimmen gewoben, die
Linien wirbeln und verflechten sich miteinander zu einem Teppich, worauf Vera
mit leichtem Fuß steigt. Sie geht, sie singt, sie schwebt, spaziert, weiterhin
vergnügt, amüsiert, weiter, hin, zum ihr selbst unbekannten Ziel.