Notiz_21
Worüber denkst du nach?
Besonders schwierige Frage heute. Worüber denke ich nach? Ich
werde klein, so klein, dass ich durch ein winziges Fenster in meinem rechten
Augen in mich hineinsehen kann: Wahlergebnisse in Italien, barocke Oper, Revolution,
eine mögliche Serie über Revolution, Musik, französische Lieder, das
bevorstehende Tanzen und Trainieren, heute muss ich arbeiten, morgen fahre ich
nach Coburg, Kofferpacken, Kaffee, warme Brötchen, Milch, saubere Schuhe, weiße
Hemden und Erde, Schlamm, ein nächtlicher Fluss, in dem ganze Familien
ertrinken, graue Zonen zwischen den Ländern, Zäune, Gerichtssäle und Polizisten
auf die Straßen, wackelige Holzgerüste auf riesigen Drehbühnen, Tanz, immer
wieder Tanz, Träumentanz, Oscars, ich träumte, ich wär’ ein Hirsch,
Csodaszarvas, Märchen, My Heart’s in the Highlands, alte sozialistische Bücher
ruhen auf meinem Regal, eine Bibel aus der DDR neben Örkény Istváns Theatergesamtausgabe,
auf die Budapester Burg gefunden in einer Seitengasse, zu Verschenken, ein
netter Kellner, der in Deutschland gearbeitet hatte, ich erinnere mich nicht mehr,
ob ich tatsächlich seine Klagen nachvollziehen konnte, oder ob ich nur meiner
Höflichkeit halber ihn zuhörte, zweite Staffel wurde in Ungarn stattfinden, die
Hauptfigur wurde seinen Namen in Németh ändern, vielleicht sollte ich einfach
damit anfangen, jetzt, wo die Ereignisse noch druckfrisch sind, eine Kundgebung
in München die in einen Straßenkampf eskaliert, G20 Hamburg, G8 Genua, Le vent
nous portera, den Text eines Liedes aus dem Französischen übersetzen lassen,
die Übersetzung als Grundlage für einen Theatertext verwenden, ohne jemals das
Lied tatsächlich gehört zu haben, ich habe Ahmed vergessen, nein, Ahmed kann
ich nicht vergessen, ich prokrastiniere, ausgedruckte Blätter über die Hamburger
Gänsemarktoper liegen neben mir auf der Couch, Vera ist der Wind, der meine
Gedanken aufwirbelt, es wird wärmer, ein Frühling, der müde die Schwelle des
Himmels betritt, ein Frühling gleich einem fünfzigjährigen Mann, der eine
einsame Mittagspause mit den Kollegen genießt, die verspiegelten Fenster zeigen
hundert Sonnen, während ich mich dem Eingang nähere, München sehen und nicht in
München wohnen, das ist mir ja seit fünfeinhalb Jahren nicht mehr passiert,
wenn ich ein wenig mehr Geld hätte, dann könnten wir schon im Sommer anfangen eine
Vorstellungssequenz zu drehen, dann im Herbst das Drehbuch schreiben, im Winter
sich für Stipendien und Förderungen bewerben, im Frühling Organisation, im
Sommer wieder drehen, ein ganzes Jahr wäre dann vergangen und ich wäre
wahrscheinlich genauso glücklich und genauso traurig wie jetzt gerade, ich
hätte genauso vielen Träume und genauso vielen Ideen wie gerade jetzt, vor
allem würde ich genauso viel prokrastinieren, genauso viel warten, genauso viel
hoffen, dass etwas passieren wird, weil wenn etwas passieren würde, dann würde
endlich etwas passieren, politische Gedankenspiele, die Uhrzeit, schon so spät,
ich muss jetzt, ich muss jetzt wirklich.
Zigarette?
Vera kniet auf der Couch neben mir, unter ihr die Blätter meiner
aufgeschobenen Hausarbeit. Sie beugt sich vor, küsst mich auf die Stirn,
streichelt mein Gesicht, ihre Augen lächeln und schreien zart, dass alles gut ist, dass in
mir alles gut ist.
Komm.
Die weißen Landschaften hinter meinen Füßen blühen, während ich
zur Küche gehe. Vera führt mich, sie hält meine Hand fest.