Notz_19.2
Ich sitze an dem Schreibtisch, der heute gute sieben Zentimeter
höher geworden ist. Vera sitzt auf dem Sessel neben mir und liest József Attila
Gedichte.
Hör zu: sokszor behunytam a szememet és ugy
mentem az uccán, hogy vajjon tudok-e behunyt
szemmel
irányt tartani.
Hmm.
Es
gibt auch viele schöne Sätze, nicht nur Obszönitäten.
Oft schloss ich die Augen und so ging ich durch die Straßen, ob
ich mit geschlossenen Augen die Richtung halten kann. Ja, auch schöne Sätze.
Aber trotzdem provokativ, auf einer eigenartigen Weise Obszön. Kindlich fast.
Ängstlich.
Wie geht es
weiter?
Meg fogok dögleni, de elöbb kimegyek
vizelni.
Sterben werde ich, davor aber muss ich pinkeln gehen. Schwarz.
József Attila hat diese freien Wortassoziationen im 1936 niedergeschrieben, ein
Jahr vor seinem Tod. Er hat sich das Leben genommen, muss man dazu sagen. Ein
guter Ungar.
Sicher,
dass wir nicht nach Berlin können am zehnten März? Ich würde so gerne die deutsche
Buchpremiere sehen.
Wir können nicht, Vera, das weißt
du.
Hast
du gesehen, im Programm der Volksbühne steht sogar das Graffiti, das um die
Ecke von unserer Wohnung in Budapest ist!
Habe ich gesehen. Leider ist aber
das Graffiti nicht mehr da.
Vera seufzt. Sie stellt die ausgedruckten Seiten mit den
Gedichten weg. Sie überlegt kurz, dann springt sie auf dem Schreibtisch und
schaut mich blinzelnd an.
Was machst du?
Ihr Kopf kommt allmählich näher.
Was machst du?
Nur wenige Millimeter stehen zwischen unseren beiden Nasen. Sie
blinzelt. Ich lecke die Spitze ihrer Nase an. Sie springt zurück.
Ekelig!
Das hast du
gewollt.
Vera schnellt vor, kitzelt mich am Bauch.
Nein!
Das hast du gewollt.
Ich heule vor Lachen. Inzwischen rollen wir uns auf der Couch,
ineinander verstrickt, lachend.
Pause!
Pause.
Wir holen Atem. Ihr Kopf ruht auf meiner sich rhythmisch hebenden
und senkenden Brust. Ihre Haare stechen in meinem Hals. Ihre Haare riechen gut.
Es ist ein angenehmes Stechen.
Vera…
Ja?
Ich habe Flugtickets nach Budapest gekauft.
Fahren wir nach Budapest?
Ja. Anfang Mai.
Vera drückt sich fester an meine Brust. Ich sehe es nicht, aber
ich weiß, sie lächelt.
Es war ein sehr schöner Tag heute.