Notiz_31 - Zwischen den Lichtern
Lustig soll ich auch noch sein, oder wie? Der Abend sinkt
zwischen acht und neun. Überraschend warmer Tag. Ich fühle mich so wunderbar
einsam. Vera schaut den Zügen nach.
Bist du müde?
Warum soll ich müde sein?
Nur so.
Vera schaut den Zügen nach. Die Luft wird dunkler. Die
Straßenlampen gehen an. Welcher Wunsch schmerzt dir so sehr?
Welcher Wunsch
schmerzt dir so sehr?
Ich
spüre Fern- und Heimweh zugleich. Ich möchte die ganze Wohnung einpacken und
damit reisen.
Die Kontrolleurin geht vorbei, ohne zu bemerken, dass meine
Fahrkarte abgelaufen ist.
Ich
möchte mit der Stadt verschmelzen, umhüllt mit Tagesdecken. Ich möchte sehen
können. Alles. Ich möchte die leichte Bewegung der Hand von einer alten Frau im
Café sehen und gleichzeitig den Flug der Tauben. Ich möchte jeden einzelnen
Blick der Mädchen auf den Fahrrädern sehen und gleichzeitig das Schwimmen der
Blätter im Fluss unter der Brücke. Ich möchte das Vergangene sehen als eine
Reihe unwiederholbarer Fehler und über jeden dieser Fehler möchte ich ein Gedicht
schreiben und jedes Gedicht soll so anfangen: Ich träume. Denn ich träume
wirklich von kleinen, unbedeutenden Dingen, die sich im Licht auflösen sobald
der Winter endet. Ich möchte im Schatten der Zuckerhutfichte sitzen und auf dem
Balkon nach Sonnenstrahlen suchen, bis mein Haar ganz blond wird, fast weiß. Ich
möchte durch den Frühling spazieren und immer etwas zum Lesen haben. Ich
möchte, dass der Sommer anfängt, dass es aber viel regnet. Ich möchte zuhause
sein und die Lichterkette über dem Sofa anmachen.
Wir sind zuhause.
Der Zug röchelt, zieht, bremst.
Komm.
Mit wenigen Schritten vergehen die Wochen. Zwischen sieben und
acht ist der Himmel weiß. Überraschend kalter Tag heute. Wir fühlen uns so
schrecklich einsam. Währenddessen blühen die Bäume.
Welcher Wunsch
schmerzt dir so sehr?
Der Kontrolleur schaut kaum auf meine Fahrkarte, während er mich
begrüßt und sich gleichzeitig verabschiedet.
Kein
Balkon. Keine Zuckerhutfichte. Keine Sonne. Keine Lichterkette und kein Sofa.
Kein Zuhause. Keine Träume mehr von kleinen, gewohnten Dingen, keine kleine
Dinge mehr, sondern nur das Große, Vage, Unbekannte. Das ist was ich habe. Was
ich jetzt will ist schlafen.
Vera schaut mich an, in ihren grauen Augen sehe ich die Blitze
des Kampfes zwischen den Lichtern des Zuges und dem weiß strahlenden Himmel.
Der Regenbogen scheint so nah. Aber Vera hat keine Lust darauf zu klettern.
Bist du müde?
Ja.
Ich führe ihr Kopf zu meiner Brust. So bleiben wir, bis der Zug
wieder röchelt, zieht, bremst. Am Bahnsteig halten wir Hand und warten, bis die
Menschenmenge in die Tiefe des Bahnhofs strömt. Plötzlich sind wir allein unter
dem weißen Himmel. Der Regenbogen wird zu Fluss, der Bahnsteig zu Schiff, die
sanft gewölbten Brücken der Weißen Städten fließen über uns.
Wir fahren nach
Hause. Komm.