Notiz_36 - Währenddessen wartet ganz Deutschland
Die Türme der Bamberger Altstadt. Immer sind es die kleinsten
Dinge, die mich aus dem Gleichgewicht bringen. Ich bin wieder den Tränen nahe,
wenn ich nicht aufpasse, falle ich, weine ich, ersaufe ich. Dort auf der Kippe
treffe ich Vera. Sie schaut nach unten, Bamberg in der Abenddämmerung, ich
stelle mir die Stadt nur vor, ich kann nicht hinschauen, ich habe Höhenangst.
Warum hier?
Ich vermute, Feri hat etwas damit zu
tun.
Mein kleiner blonder Kater namens Feri, kurz für Franz Josef,
streckt sich in der Abendsonne. Er hat seit heute Morgen allmählich sein
Interesse an mir verloren. Ich bin ihm sehr dankbar dafür. Jetzt spaziert er
über die Dächer, nur selten sieht er nach mir, nur kurz, um sich zu
vergewissern, dass ich nicht heruntergefallen bin.
Mir ist es aufgefallen, dass ich
keinerlei Erinnerung an die Stadt habe. Ich kenne die Straßen nicht, nicht die
Gassen, nicht mal die Plätze. Ich erinnere mich nur an das Theater und an das gelbe
Licht der Straßenlampen. Fensterläden. Hellblaue Fensterläden und ein Haus, das
unendlich langsam in den Fluss einsinkt. Den Rest habe ich vergessen.
Und
obwohl du in Bamberg niemals alleine warst, sind selbst in der Erinnerung die
Menschen dir fern.
Vor allem an sie kann ich mich kaum
mehr erinnern.
An Sonntagen bricht die Welt zusammen. Währenddessen wartet ganz
Deutschland auf das WM-Spiel.
Gehen wir weg
von hier.
Vera sieht mich geduldig an. Ihre Hand berührt sanft die Meine.
Jetzt
ist Bamberg wieder fern. Weißt du noch, wie sehr du die Stadt mochtest? Ständig
plantest du, für einen Tag dahin zu fahren, und niemals hast du es geschafft.
Die Welt liebte ich. Die winzig
kleine Welt in Franken.
Was
schmerzt ist nicht das Fehlen der Person, sondern die Vernichtung der Welt, in
dem sie gewohnt hat.
Vera hat meine Hand nicht losgelassen, auch wenn ich jetzt nicht
mehr herunterstürzen kann. Wir sitzen aneinander gegenüber am runden Tisch, der
Abend fällt unendlich langsam auf die Wiese.
Seltsam ist es.
Es ist normal.
Vera lächelt. Ich lächele auch, obwohl es mir danach nicht
zumute ist.
Nun bin ich zur
langen Reise an der Oberfläche verdammt.
So schlimm kann es doch nicht sein. Du magst
doch Reisen.
Ich mag Reisen. Ja.
Mein Lächeln ist jetzt ein wenig überzeugter.