Notiz_42 - Jeden Abend vor dem Schlaf
Die ganze Luft dieser Stadt reicht kaum für einen Atemzug. Mein
Halsweh ist zurückgekehrt, ich hechele. Wie soll sich meine Stimme entwickeln
können unter solchen Umständen. Hinter den vergilbten Wolkenschleier höre ich
ein unsichtbares Feuerwerk. Es gibt wohl was zu feiern. Ich klatsche mit, ohne
Hände.
Es ist etwas, was gesagt werden will, was du
nicht aussprichst.
Vera hat meistens Recht in solchen Sachen.
Den ganzen Tag
schon starre ich in mich hinein. Ich habe nichts gefunden.
Nur die Leere, die dein Platz einst war.
Wessen Platz.
Wir lassen die Beine über den Krater baumeln. Ich komme oft
hierher. Ich erwache wie im Traum, ziehe mich aus, werfe die Kleidung in den
Abgrund. Dann ziehe ich einen schwarzen Anzug an. Oder weite Hosen und ein
schwarzes Oberteil. Dann lassen Vera und ich die Beine über den Krater baumeln.
Vera überreicht mir einen grünschwarzen Wollschal.
Für dein Halsweh.
Danke.
Ich ziehe ihn an.
Es juckt.
Das ist gut.
Vera steht auf, schaut sich um, geht, nach ein paar Schritten
hält sie inne, sie kommt zurück, setzt sich wieder neben mir. Wir lassen die
Beine über den Krater baumeln.
Was
ist jetzt eigentlich mit dem Alltag. Ich meine, ist es morgen schon soweit. Ist
das Jahr wirklich zu Ende. Wann hat letztes Jahr angefangen, weißt du das.
Nicht mehr.
Wir denken beide nach.
Da war dieses Buch.
Stimmt. Jetzt weiß ich es wieder. Wir
haben jeden Abend vor dem Schlaf eine Seite davon übersetzt.
Eine
Art, das Gleichgewicht zu behalten.
Um nichts zu fallen, ja.
Und
doch kannst du nicht auf ewig warten, dass was du in die Welt ausgespuckt hast
zu dir zurückkommt. Da muss schon ein bisschen mehr spucken.
Es ist schwierig, mit trockenem Mund.
Wir sind auf einer Brücke. Der Wind ist stark aber noch angenehm.
Veras schmutzigblonde Haare flattern wie eine Fahne, die auf dem Mast vergessen
wurde, obwohl das Haus darunter schon längst verlassen steht. Ich möchte gerne
einen Liebesbrief, ohne Empfänger allerdings.
Wann haben wir
uns für die Einsamkeit entschieden, weißt du das.
Haben wir das wirklich.
Wenn wir uns nicht dafür entschieden hätten, dann wäre es
noch schlimmer.
Das stimmt.