Notiz_45 - Neidisch auf die anderen Koffer
Vera explodiert. Leise, ruhig, als wäre das, was sie
zusammenhielt, von vornherein nicht so kräftig, nicht so wichtig gewesen. Die
kleinen Stücke von Haut und Knochen wirbeln durch die Abteile des Zuges, beim
ersten Halt strömen sie heraus und konkurrieren um meine Aufmerksamkeit mit den
niedersächsischen Wolken. Der Zug hat zehn Minuten Verspätung, ich werde den
Anschluss in Hamburg verpassen und zwei Stunden später in Svendborg ankommen.
Außerdem bin ich krank.
Du bist vollkommen nutzlos, wenn du krank
bist.
Vera sitzt auf den Berg von Gepäck und Bücher und
Kleidungsstücke, die mein Haus bilden seit zwei Wochen. Die letzten Teile ihres
Körpers fliegen noch verwirrt um sie herum und suchen nach ihren ursprünglichen
Plätzen.
Ich bin der Koffer, worin die
schmutzige Wäsche eingepackt worden ist. Mein linkes Rad ist gebrochen und mein
Henkel auch. Mein Besitzer hat keine Lust mehr, mich von Zug zu Zug zu schleppen.
Und doch werde ich weitergeschoben.
Gleich sind wir in Hamburg.
Und genau jetzt fährt mein nächster Zug weg.
Noch vor der Elbphilarmonie. Az alvilágnak
nincs romantikája.
Da ist sie.
Die Elbphilarmonie.
Wie wäre es, in Hamburg zu bleiben eine Weile lang. Ich kann
erstmal zwei Stunden Aufenthalt ausprobieren.
Ich bin der Koffer mit dem
gebrochenen Rad, der neidisch auf die anderen Koffer schaut. Sie haben vier
funktionierenden Räder, sie sind nicht verkratzt, nicht zerbrochen, ihren
Henkel rutscht reibungslos in ihrem festen Körper ein und wieder aus. Ich spüre
die vorsichtig gebügelten und gefalteten Hemden in ihnen, ich denke an die
zerknüllte Unterwäsche in mir.
Sogar
mit deinem Koffer kannst du empathisch sein.
Ja. Ich tue mir einfach Leid.
Wir schauen aus dem Restaurantfenster zum Hamburger
Hauptbahnhof. Vera leckt die Mayonnaise-Resten von ihren Fingern ab. Seltsamerweise
scheint die Mayonnaise nicht enden zu wollen. Sie läuft nun Veras Arm herunter.
Ich hätte gerne
einen neuen Koffer.
Ich hätte gerne einen Pony.
Vera leckt die Mayonnaise von ihren Knien ab.
Lustig. Das
erste Mal, dass ich in Hamburg war, war fast genau vor vier Jahren.
Sechs.
Vera lutscht an ihrem großen Zeh. Ich habe das Gefühl, das hat
nichts mehr mit Mayonnaise zu tun.
Sechs. Stimmt. Seitdem hat sich
ungefähr alles verändert. Nur mein Kontostand kreist immer noch gefährlich um die
Null herum.
Und
doch essen wir im Restaurant.
Ja.
Damals
warst du wirklich pleite.
Wirklich pleite. Ich habe mein
Versicherungsgeld aufgehoben um die Hafenrundfahrt zu machen, weil alle dabei
waren und ich nicht der einzige sein wollte, der sie nicht mitmacht. Ich habe
damals nicht gearbeitet, nur Theater gemacht. Jetzt arbeite ich, indem ich Theater
mache. Naja. Noch nicht ganz.
Noch
nicht ganz.
Ein winziger Hund in einem Pinken Pullover versucht, das
Brötchen des Paares am Nachbartisch zu erreichen. Das Mädchen, das so hell
gelacht hat beim Essen, verlässt gerade selbstbewusst das Lokal. Ihre Eltern
trotten hinter ihr her. Vera ist mit der Mayonnaise fertig, jetzt beschäftigt
sie sich, indem sie die Reihenfolge der Buchstaben auf der Speisekarte ändert.
Zumindest
haben wir das Restaurant ausprobiert. Du wolltest letztes Mal auch hierher,
aber stattdessen haben wir gebratene Nudeln gegessen.
Wann war das?
Letzte
Woche.
Hmm.
Wie wäre es, wenn der ganze Hamburger Hauptbahnhof Richtung
Norden aufbrechen würde. Die Züge blieben auf der ganzen Strecke nach München stehen
und man müsste von Abteil zu Abteil gehen, um eine der Städte zu erreichen. Man
hätte immer noch die Möglichkeit, an einem der Bordbistrots sich einen Kaffee
zu kaufen. Und Schlafwägen gebe es auch. Nur eine bessere Internetverbindung
würde nicht schaden. Problematisch wäre aber, den ganzen Bahnhof auf die Fähre
nach Dänemark zu stellen. Aber wer weiß, vielleicht würde der Bahnhof einfach
über das Wasser gleiten.