- SZ - Nachrichtenschau 01. April 2019
WE LIVE IN A STRANGE WORLD die Sonnenstrahlen
Wiegen schwer auf den Schultern der Statue des Bierbrauers,
Der die unendlichen Bauarbeiten auf den Platz beobachtet,
München wird wieder einmal noch ein bisschen sauberer,
Vera trägt meine Sonnenbrille auch in der Dunkelheit
Des Cafés, dem ich meine Nachmittagsstunden schenke,
Ich schiebe wieder auf, was ich zu tun habe, Aufträge
Für andere Städte, andere Zeiten, andere Leben, weit
Entfernt von der Aussicht auf die Bauarbeiten und weit
Entfernt von dieser Aussicht bin ich und neben mir
Sitzt Vera und liest Zeitung. Ein Interview mit der
Migrationsforscherin Nikita Foroutan über ihre
Neupublizierte Studie UND DABEI IST IHNEN
AUFGEFALLEN DASS OSTDEUTSCHE
ÄHNLICH BENACHTEILIGT WIE MIGRANTEN
SIND NEIN DAS WAR SELBSTVERSTÄNDLICH
FÜR MICH DAS WÄRE SO ALS WÜRDEN SIE
MICH FRAGEN OB ICH IRGENDWANN
ERKANNT HÄTTE DASS FRAUEN
BENACHTEILIGT SIND ich ruhe mich aus
Auf Zahlen und Argumentationen und bin
Ganz kurz zufrieden über diese unerwartete
Bestätigung meiner Bauchgefühle, ganz kurz nur,
Dann entsinne ich mich an meine Skepsis wieder
Und an Veras Hand auf meinem Oberschenkel, sie
Will mich beruhigen, ich will schreien, nichts
Außerordentliches also JE STÄRKER MAN
IM VERGLEICH ZUR MEHRHEITSGESELLSCHAFT
AUFHOLT UMSO GRÖSSER WIRD ZU RECHT DIE
UNZUFRIEDENHEIT DARÜBER WAS NOCH NICHT
AUFGEHOLT IST DAS NENNT MAN EMANZIPATION
Vor mir sehe ich die graue Figur von Heiner Müller beim
Frühstück in der verunstaltete Stadt Berlin im Dezember
Zweiundneunzig, sein Zigarrenrauch kitzelt meine Augen
FÜNF STRASSEN WEITER WIE DIE SIRENEN ANDEUTEN
SCHLAGEN DIE ARMEN AUF DIE ÄRMSTEN EIN
Auf dem Platz vor dem buddhistischen Tempel in Prato,
Italien, hundertsiebenunddreißig Menschen feiern
Die hundert Jahre der Faschistischen Bewegung,
Ist mein Ekel verbraucht oder ist mein Mitleid zu groß
Oder ist es der Frühlingsanfang, der mein Fühlen zähmt,
Die Wahrheit ist, ich habe vor dem Schweigen mehr Angst
Als vor der menschenfeindlichen Äußerungen der
Hundertsiebenunddreißig schwarzbekleidete in Prato,
Die Wahrheit ist, dass sie nicht das Problem sind, sie
Sind es nie gewesen, die Perspektivlosigkeit ist das Problem,
Sowie der Mann im Anzug der mit Kreditkarte seinen Smoothie
Zahlt, während man die Münzen für das Dosenbier an der
Supermarktkasse auskramt, und ob man in Dresden oder
In Aleppo geboren wurde, macht das einen Unterschied
DEN GRUPPEN DIE SCHULD IN DIE SCHUHE
ZU SCHIEBEN FÜR IHRE UNGLEICHHEIT IN
DER GESELLSCHAFT das ist das Problem, der neue
Krieg um Privilegien, um Kaufkraft, um Sorglosigkeit,
um einen Platz an einem Tisch im Café unter der Sonne,
Wie viel kostet meine Unschuld, das dänische Geld
Auf mein Konto, wie viel kostet es, die Wahrheit ist DASS
MAN WENN MAN TEIL EINER MARGINALISIERTEN
GRUPPE IST IDENTITÄTSFRAGEN SO GUT WIE NIE
ENTKOMMT und wir haben neue Sonnenbrillen und
Keine Antworten, das ist der Ursprung meiner Schuld,
WE LIVE IN A STRANGE WORLD wo Menschlichkeit
Erst verdient werden muss, natürlich ist das alles viel
Komplizierter, Vera nimmt die Sonnenbrille ab, nein,
Die Wahrheit ist, dass
alles viel zu einfach ist
WE LIVE IN A STRANGE WORLD WHERE
NO ONE DARES TO LOOK
BEYOND OUR
CURRENT POLITICAL SYSTEM EVEN THOUGH
IT’S CLEAR THAT THE ANSWERS WE SEEK
WILL NOT BE FOUND IN THE POLITICS OF
TODAY das weiße Kleid von Greta Thunberg bei
Der Preisverleihung der Goldenen Kamera in der
Verunstaltete Stadt Berlin ist ein Licht, das keine
Sonnenbrille ertragen kann, ihre Worte Ohrwürmer
Die meine Entschuldigungen auffressen, Vera
Nimmt die Hand weg von meinem Oberschenkel,
Ich bin verunsichert, soll ich jetzt schreien, was
WE LIVE IN A STRANGE WORLD gestern bei
Meiner verkaterten Zusammenfassung der Weltlage
Ist mir aufgefallen, dass ich Angst habe, weil
Die Mehrheiten schweigen und der Krieg
Der Minderheiten einen zu geringen
Nachrichtenwert hat, ich bin
Der Realität so weit entfernt,
Und doch sind die Bauarbeiten
Gleich vor dem Café, dem ich
Meine Nachmittagsstunden
Schenke, während ich meine
Aufträge weiterhin aufschiebe,
Nein, es gibt wirklich keinen
Richtigen Zeitpunkt um die
Welt zu retten, und doch
Muss man das tun.
Foto: Hannibal
Hanschke/Reuters